Verschwommenes Portrait von Hans-Rudolf Räz, Nierenspezialist und Leiter Dialyseabteilung des KSB

«Manche Ärzte entwickeln Schuldgefühle»

Hans-Rudolf Räz ist Nierenspezialist und leitet die Dialyseabteilung des KSB. Gleichzeitig steht er der spitalinternen Ethikkommission vor. Wie entscheiden Ärzte über Leben und Tod? Wie gehen sie mit dieser Verantwortung um?

Sie leiten das Ethikforum am KSB. Was ist das genau?

Im Forum sind Leute aus den unterschied­lichsten Abteilungen vertreten: Pflegeper­sonal, Ärzte, Seelsorger, eine Personal­vertreterin. So decken wir möglichst viele Aspekte des Themas ab. Und ich stehe in engem Kontakt mit der Intensivstation und mit den Intermediate­Care­Verantwortlichen, also der Überwachungsstation.

Dieses Forum entscheidet, wer einen Intensivplatz bekommt und wer nicht?

So einfach ist das nicht. Für diese schwie­rigen Entscheidungen haben wir am KSB ein Expertengremium geschaffen. Diese Ärzte und Pflegefachpersonen sind in Ethikfragen geschult und sehr erfahren in der Entscheidungsfindung. Wir alle wissen, was Notfalldienst bedeutet. Das Experten­gremium unterstützt die verantwortlichen behandelnden Ärzte beim Entscheid, wer Intensivpflege erhält, wenn nicht genügend Plätze zur Verfügung stehen. Das sind schwierige Entscheidungen. Im Zweifelsfall halten wir uns strikte an die ethischen Richt­linien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW).

Wir reden gerade über die Triage?

Auslöser waren die Bilder und Berichte aus Italien Anfang des letzten Jahres, ja. Ärzte um Rat angefragt werden. Das Dreierteam übernimmt aber auch Koordinationsauf­gaben. Es ruft etwa Angehörige an, holt Informationen ein, unterstützt die Orga­nisation von Patientenverlegungen und entlastet so den direkt verantwortlichen Arzt von möglichst vielen Aufgaben. Entscheiden wird aber in jedem Fall die behandelnde Ärztin, der behandelnde Arzt.Was tun Sie, wenn Angehörige mit dem Anwalt drohen?(Zögert mit der Antwort.) Das ist eine schwierige Frage. Aus juristischer Sicht sind gewisse Situationen nicht endgültig geklärt. stehen in solchen Ausnahmesituationen unter einem enormen Druck. Damit nicht einzelne so schwierige, letztlich immer falsche Entscheide fällen müssen, unter­stützt sie unser Expertengremium. So helfen wir mit, die Last solcher harter und schwerer Entscheide auf mehrere Schultern zu ver­teilen. Trotzdem entwickeln manche unter uns Schuldgefühle.

Wie gehen Sie als Arzt mit dem Druck um?

Wir haben sieben Teams mit je drei Mit­gliedern gebildet. Die drei haben immer gemeinsam Dienst und können jederzeit um Rat angefragt werden. Das Dreierteam übernimmt aber auch Koordinationsauf­gaben. Es ruft etwa Angehörige an, holt Informationen ein, unterstützt die Orga­nisation von Patientenverlegungen und entlastet so den direkt verantwortlichen Arzt von möglichst vielen Aufgaben. Entscheiden wird aber in jedem Fall die behandelnde Ärztin, der behandelnde Arzt.

« Hier geht es um Lebensjahre mit guter Lebensqualität. Es ist nicht unsere Aufgabe, Leben um jeden Preis zu retten.»

Hans-Rudolf Räz, Nierenspezialist und Leitung der Dialyseabteilung des KSB

Was tun Sie, wenn Angehörige mit dem Anwalt drohen?

(Zögert mit der Antwort.) Das ist eine schwierige Frage. Aus juristischer Sicht sind gewisse Situationen nicht endgültig geklärt. Deshalb setzen wir im Alltag auf trans­parente Kommunikation. Wir verteilen die Verantwortung auf mehrere Schultern, und wir dokumentieren unsere Entscheide lückenlos.

Ein enormer administrativer Aufwand.

Wir haben schon früher alles dokumentiert. Während der Pandemie ist das noch wichtiger geworden. Zu unserem Schutz und auch zum Schutz des Patienten und der Angehörigen. Aber die Grenzen sind fliessend, das heisst: Wir stehen auf rutschigem Grund.

Dürfen Sie sich gegen den schriftlichen Willen in einer Patientenverfügung wenden?

Ja, das dürfen wir. Wir entscheiden, was medizinisch sinnvoll ist. Das gilt gerade unter der Triage. Hier geht es um Lebens­jahre mit guter Lebensqualität. Es ist nicht unsere Aufgabe, Leben um jeden Preis zu erhalten. Patienten können nicht etwas einfordern, das auf Kosten anderer Men­schen mit besseren Aussichten geht.

Wie hält man es als Mensch aus, einen Patienten, den man gut kennt, nicht mehr mit allem Mach-baren behandeln zu können?

Das ist sehr frustrierend. Ich hatte Patienten, denen ich keinen Platz zuweisen konnte. In diesen Fällen sagt man sich: Alles korrekt gelaufen, alle Vorgaben eingehalten, pro­fessionell gehandelt. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Was bleibt, ist auf der menschlichen Seite ein ungutes Gefühl.

Wie gehen Sie damit um?

Das macht mich wütend.

Inwiefern?

Ich bin wütend auf die Politik, auf das lang­same Tempo. Ich bin wütend, dass wissen­schaftliche Erkenntnisse einfach ausge­blendet werden. Und ich bin wütend, weil viele Verantwortliche die Konsequenzen für das medizinische Personal nicht sehen wollen: Übermüdung, Ende des Soziallebens, Überstunden noch und noch.

Was stört Sie am meisten in der öffentlichen Diskussion zu Covid?

Dieses Mantra zur Selbstverantwortung ist ein wunderbares Prinzip. Leider funktio­niert es nicht. Ich glaube, die Menschen brauchen klare Vorgaben. Es stört mich, dass Politik und Gesellschaft das nicht erkennen. Und es stört mich, dass wir kaum über die Menschen reden, die bei uns jeden Tag sterben.

Ihr schwierigster Entscheid bisher?

Ich erinnere mich an einen schwer depres­siven Patienten, der einen überlebenswich­tigen operativen Eingriff im Bauchraum benötigt hätte. Er lehnte diesen Eingriff ab, weil er sterben wollte. Kann ich als Arzt den Wunsch eines schwer depressiven Patienten akzeptieren? Ist er selber entscheidungs­fähig? Oder muss ich alles unternehmen, um sein Leben zu retten? Diese Fragen haben wir auf ethischer und medizinischer Basis eingehend diskutiert.

Wie haben Sie entschieden?

Wir haben auf die Operation verzichtet. Der Mann ist kurz darauf gestorben

Hans-Rudolf Räz (64) wurde in Zürich geboren. Nach Ausbildungen in Chirurgie, Innerer Medizin und Nephrologie wurde er Leitender Arzt für Nephrologie am Spital Lachen. Im Jahr 2000 kam Räz ans KSB, wo er das Institut Nephrologie und Dialyse leitet und die Dialysestation aufbaute. Mit 26 Betten ist sie eine der grössten Stationen der Schweiz. Hans-Rudolf Räz lebt in der Region Baden.

Quelle

Zuerst erschienen im Kundenmagazin des Kantonsspitals Baden.

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